Geistige Reise

Ich treibe da so dahin, auf meiner Luftmatratze, auf dem Meer und freue mich über den blauen Himmel und das leichte Schaukeln der ruhigen Wellen. Und ich spüre die anderen um mich herum, obwohl da nichts zu sehen ist, aber ich spüre sie, am Horizont. Da taucht auf einmal neben mir ein großer, weißer, freundlich blickender Kopf auf, mit einem Horn. Und das Horn sieht aus wie aus ganz vielen Glasfasern zu einem spitz zulaufenden Seil gewunden und glänzt regenbogenfarben prismatisch in der Sonne. Der Wal winkt einladend mit seinem Kopf und nach Überwindung meiner wohligen Trägheit im Schaukeln schwinge ich mich auf seinen Rücken. Es geht abwärts in rasanter Fahrt. Durch Lichtreflexionen, durch Algen und Plankton, den der Wal mit lachend aufgerissenem Maul in sich einsaugt und hinterher in meinem Kopf ruft: Das Meer ist ein Schlaraffenland! Und blubbernd vor Johlen fliegen wir weiter durch die Bläue. Ein Gruß an das Quallenballett links, ein Winken und Nicken zur Seepferdchenweide rechts. Vor uns ist unter uns immer weiter in die Tiefe reißt uns die Fahrt. Ganz in der Ferne Moby Dick, dann ein Mann mit weißem Hut und weißem Anzug, prostet uns zu mit erhobenem Glas, ein dunkelhaariger Gentleman hebt provokant grüßend eine Braue und nippt am grün gefüllten Glas. Bis zum Grund, ein bisschen Schlamm aufgewühlt und in abrupter Kehrtwende wieder ebenso rasant nach oben, dem Licht entgegen. In hohem Bogen springt der Wal aus dem Wasser, mich auf seinem Rücken, und prustet seinen Atem in die Luft. In sicherer Entfernung ein Kitesurfer, lässt sich von seinem Drachenschirm ziehen. Und, meine Augen werden groß, an dem Drachen eine Gestalt. Ja, es ist ein Paraglider. Weit oben. Der Drache zieht den Surfer und trägt den Flieger gleichzeitig. Was für eine Synthese. Ich merke meine Finger jucken, schaue an mir herunter und siehe da, sie wachsen zusammen! Werden zu Schwingen, meine Arme heben und senken sich und ich kann nur noch kurz dankend zurückschauen zum Wal, ehe ich abhebe. In die Lüfte aufsteige, vorbei an einem klugäugigen, bärtigen Mann mit einer Uhr, im Hintergrund ein Elfenbeinturm, vorbei an einer dunkelhaarigen Frau mit lustig funkelndem Blick und perlendem Lachen, darüber hinaus, immer höher, durch den ersten Wolkenschleier, wieder Blau, bis ich hinunterschaue und mein Herz anhält für einen winzigen Augenblick. Unter mir nass spiegelnd glitzerndes Blau, über mir ätherisches Blau und das Blau unter mir wird immer dunkler und verspricht Tiefe und mir wird ganz weit und ich werd ganz leicht, bevor ich schwer werde. Wie ein Stein. Denn ich weiß, es ist soweit. Ich lass mich fallen. Pfeilschnell schieße ich dem Untergrund entgegen. Keine Zeit für Übelkeit. Immer weiter runter, bis ich eintauche. Tief, ganz tief hinab. Ins blauschwarze Wasser. Haie um mich, doch sie nehmen keine Notiz, obgleich ich elektrische Blitze zwischen ihnen und mir sehe. Jetzt, in diesem Moment, im Weiter hinab Schießen, bin ich eine von ihnen. Weiter hinunter. Ich sehe Gestalten, unscharf, weit hinten. Ein weißes Blitzen, der Wal ist in der Ferne. Kommt näher, nimmt mich wieder auf, schwimmt mit mir auch hier bis nahe an den Grund, wo Unentdecktes wartet, lauert oder sich versteckt. Durch eine schwarze Wolke, wie Tinte. Als wir durch sind haftet sie buchstabenförmig auf seiner und auf meiner Haut. Wir nehmen sie mit. Wir sind auf der Suche. Auf der Suche nach dem Schatz in der Truhe. Dem Schatz fürs Ende der Reise. Doch so schnell soll das nicht sein. Wir schwimmen weiter, vertreiben uns die Zeit, drehen Pirouetten, ziehen Schleifen beim Aufsteigen, kommen zum Korallenriff und verlieren uns in seiner Schönheit und seinen Details, doch nicht zu nahe, damit die Schärfe uns nicht die Haut einritzt. Und kommen wieder an die Oberfläche. Atemlos schütteln wir die Buchstaben ab. Diese Reise ist noch lange nicht zu Ende. Diese Reise dauert solange sie dauert. Mit Pausen, mit Totsein, mit Treiben, mit Schwimmen. Für jetzt endet sie auf der Luftmatratze. Ein letztes Grüßen des weißen Kopfes, ehe er wieder im Ozean verschwindet. Wir finden uns wieder!

2010